Gemeinsam mit über 54.000 Mitkläger:innen haben Greenpeace und Germanwatch beim Bundesverfassungsgericht eine neue Verfassungsbeschwerde gegen die unzureichende Klimapolitik der Bundesregierung eingereicht. Mehr als zwanzig Kläger:innen präsentierten vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einen Klimaschutz-Banner sowie die Gesamtzahl der Zukunftskläger:innen auf ein Meter hohen Holzziffern. Mit der Verfassungsbeschwerde für eine klimagerechte Zukunft soll die Umsetzung eines verfassungskonformen Klimaschutzgesetzes erreicht werden, das unter anderm Schritte zur CO2-Reduktion im Verkehr beinhaltet.
„Die Bundesregierung verschleppt wirksame und sozial gerechte Klimaschutz-Maßnahmen und verletzt damit Freiheits- und Gleichheitsrechte”, erklärt Roda Verheyen, die als Rechtsanwältin die Klimakläger:innen vertritt. „Um unsere Grundrechte zu wahren, müssen Emissionsreduktionen rechtzeitig eingeleitet und umgesetzt werden – die Novelle des Klimaschutzgesetzes erreicht genau das Gegenteil.”
Die Verfassungsbeschwerde ist eine von drei Beschwerden, die fünf deutsche Umweltverbände gemeinsam mit Beschwerdeführenden gegen die unzureichende Klimapolitik der Bundesregierung sowie insbesondere die Abschwächung des Klimaschutzgesetzes (KSG) einreichen. Neben Greenpeace und Germanwatch erheben auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) sowie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) gemeinsam mit dem Solarenergie-Förderverein Deutschland (SFV) jeweils eine Beschwerde.
Bereits 2018 hatten drei von den Folgen der Klimakrise unmittelbar betroffene Familien, die von ökologischer Landwirtschaft leben, gemeinsam mit Greenpeace beim Verwaltungsgericht Berlin Klage gegen die Bundesregierung eingereicht, mehr für den Klimaschutz zu tun. Die Klage wurde in erster Instanz abgewiesen. Im Februar 2020 hatten neun junge Menschen mit Unterstützung von Greenpeace, Germanwatch und Protect the Planet, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), der Deutschen Umwelthilfe (DUH) und Fridays for Future-Aktivist:innen eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, weil das deutsche Klimaschutzgesetz (KSG) die 2015 beim COP 21 in Paris völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung ignoriert, den Ausstoß von Treibhausgasen so schnell wie möglich zu senken, um den Temperaturanstieg möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen.
Am 29. April 2021 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Bundes-Klimaschutzgesetz in Teilen für verfassungswidrig, da das Gesetz hohe Emissionsminderungs-Lasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030 verschiebt, was zu Lasten der jüngeren Generation geht. Die bisher getroffenen und geplanten Maßnahmen sind nicht ausreichend, um die wenig ambitionierten Klimaziele zu erreichen. Das Gericht forderte, dass die Regierung bis zum 31. Dezember 2022 einen neuen Fahrplan vorlegen soll, wie sie das 1,5 Grad-Ziel von Paris kontinuierlich und nachvollziehbar in allen Sektoren (Energie, Gebäude, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft) erreichen will.
Selbst mit dem Klimaschutzgesetz würde Deutschland bis 2030 das gesamte deutsche CO2-Budget aufbrauchen. Daher klagen Jugendliche und junge Erwachsene vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Bundesregierung. Darin berufen sich die jungen Kläger auf Artikel 2 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die das Recht auf Leben und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens schützen.
Bereits heute leiden viele Menschen unter der Klimakrise und extreme Hitzewellen, Allergien und Asthma, Krebs durch stärker werdende UV-Strahlung, Extremwetter-Ereignisse und eine steigende Waldbrandgefahr werden zunehmen. Dies ist das erste Klimaschutz-Verfahren deutscher Beschwerdeführer gegen die Bundesregierung vor dem Menschenrechtsgerichtshof. Dort sind bereits Klimaklagen von Klima-Seniorinnen aus der Schweiz, portugiesischen Jugendlichen und einem französischen Bürgermeister eingereicht worden. Die Klima-Seniorinnen aus der Schweiz haben im April 2024 in Straßburg einen historischen Sieg errungen. Der Europäische Gerichtshof gab ihnen Recht, dass Klimaschutz Staatspflicht ist. Die Klagen aus Portugal und Frankreich wurden abgewiesen.
Den deutschen Klägern geht es um die Umsetzung der Vorgaben aus dem Klimaschutzgesetz. Der von der Bundesregierung aufgestellte Expertenrat für Klimafragen hat im November 2022 in seinem Zweijahres-Gutachten festgestellt, dass die Klimaziele bis 2030 mit den derzeitigen Maßnahmen verfehlt werden. Um die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes bis 2030 zu erreichen, müsste Deutschland die Geschwindigkeit der CO2-Reduktion mehr als verdoppeln. Im Verkehrssektor müssten die Emissionen vierzehnmal so schnell sinken wie bisher.
2020 hatten die Deutsche Umwelthilfe und der BUND beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eine Klage gegen die Bundesregierung eingereicht, die auf ein Maßnahmenprogramm für den Verkehrssektor abzielte. 2021 folgte eine Klage mit Hinblick auf die Sektoren Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude und Landwirtschaft. 2022 reichten die Umweltverbände eine weitere Klage für den Sektor der Landnutzung und Forstwirtschaft ein.
In den Sektoren Verkehr und Gebäude wurden die im Klimaschutzgesetz erlaubten CO2-Höchstmengen in den letzten drei Jahren erheblich überschritten. Nach §8 KSG muss das zuständige Ministerium in diesem Fall ein Sofortprogramm vorlegen, das die Einhaltung der Jahres-Emissions- mengen dieses Sektors für die folgenden Jahre sicherstellt.“ Für beide Sektoren wurden keine ausreichenden Sofortprogramme präsentiert. Die Bundesregierung hat 2021 und 2022 in den Sektoren Verkehr und Gebäude gegen die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes verstoßen. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) hatte ein Sofortprogramm abgelehnt und Bauministerin Klara Geywitz (SPD) auf die Aufweichung der Sektorenziele im novellierten Klimaschutzgesetz spekuliert.
Im November 2023 hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Klimaschutzpolitik der Bundesregierung in mehreren Punkten als rechtswidrig verurteilt. Die Bundesregierung ist verpflichtet, Sofortprogramme für mehr Klimaschutz im Verkehr und bei Gebäuden aufzulegen. Dagegen läuft die Revision beim Bundesverwaltungsgericht. Am 26. April 2024 hat der Bundestag die Novelle und Revision des Klimaschutzgesetzes verabschiedet, die eine Gesamtbetrachtung der einzelnen Sektoren beinhaltet.
Am 16. Mai 2024 konstatierte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in seinem Urteil, dass die bestehenden Klimaschutzprogramme der Bundesregierung rechtswidrig sind. Das gilt sowohl für die Sektoren Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Landwirtschaft sowie Verkehr als auch für den Landnutzungssektor (LULUCF). Die Klimaschutzprogramme der Bundesregierung reichen nicht aus, um die Klimaziele bis 2030 beziehungsweise 2045 einzuhalten.Die Bundesregierung ist nun verpflichtet, schnellstmöglich ausreichende Klimaschutzmaßnahmen vorzulegen. Die Urteile werden sich durch das Inkrafttreten eines abgeschwächten Klimaschutzgesetzes nicht erledigen.
Der Bundesrat hat das neue Klimaschutzgesetz am 17. Mai 2024 gebilligt. Danach darf zwar keine Tonne mehr CO2 ausgestoßen werden, aber die Betrachtung der einzelnen Sektoren entfällt. Nach der Entscheidung des Bundesrats, das entkernte Klimaschutzgesetz passieren zu lassen, erfolgte die verfassungsrechtliche Prüfung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hatte Frank-Walter Steinmeier aufgefordert, die Unterschrift zu verweigern und in einem 18-seitigen Schreiben die Verfassungsverstöße im Klimaschutzgesetz dokumentiert.
„Damit kann die Bundesregierung nun ohne parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren per Rechtsverordnung mit bloßer Zustimmung des Bundestages von dem gesetzlich festgelegten jährlichen Emissionsminderungspfad abweichen“, lautete die Kritik. „Im Ergebnis, und dies ist das eigentliche Anliegen der Novelle, entscheidet nicht mehr der Gesetzgeber, sondern die jeweilige Bundesregierung in nicht vorhersehbarer Weise darüber, wie die notwendigen Reduktionsanstrengungen über die Zeit verteilt werden.“
Am 15. Juli 2024 hat Frank-Walter Steinmeier das von Umweltverbänden scharf kritisierte neue Klimaschutzgesetz unterschrieben, gegen das nun eine neue Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt worden ist. Die Umweltverbände fordern unter anderem im Verkehrssektor eines Tempolimits und eine Pkw-Maut einzuführen und das Dienstwagenprivileg sowie die Steuervorteile für Dieselkraftstoff und Kerosin abzuschaffen.
Foto: © Andreas Varnhorn/Greenpeace